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Retrovirus (Shooter) – Retrovirus

Kennt noch jemand Microcosm? Im Action-Titel von Psygnosis aus dem Jahr 1993 reiste man in einer bewaffneten Kapsel durch den menschlichen Körper, vorbei an pumpenden Herzvenen und anderen Organen – „Die Reise ins Ich“ ließ grüßen. Retrovirus versucht ein ähnliches Kunststück, doch verlagert Entwickler Cadenza die Virenjagd in die elektronischen Eingeweide eines Computers sowie dessen Software – und weckt dabei Erinnerungen an den Klassiker Descent…

© Cadenza Interactive / Cadenza Interactive

Volle Bewegungsfreiheit

[GUI_PLAYER(ID=103187,width=400,text=Visuell ist Retrovirus klasse gemacht – und auch das „Descent-Feeling“ kommt gut rüber.,align=left)]Anti-Virenprogramme glänzen nicht unbedingt durch einen hohen Unterhaltungsfaktor. Man drückt einen Startknopf und schon werden Speicher und Dateien des Computers nach Schädlingen, Trojanern und Malware durchforstet, in Quarantäne verschoben oder vorsorglich eliminiert. Der Benutzer selbst bekommt davon nichts mit. Aber wäre es nicht aufregend, sich selbst auf die Jagd nach bösartigen Programm zu begeben und sie eigenhändig zu erledigen? Genau hier setzt Retrovirus an, bei dem man das Steuer eines Mini-Schiffs übernimmt, mit dem man sich durch verwinkelte Daten-Korridore bewegt, Firewalls überbrückt, Schlüsselkarten sucht und feindlichen Code mit diversen Waffensystemen zerstört. Für die schnelle Flucht oder ein Voranpreschen steht außerdem eine Boost-Funktion zur Verfügung.

Anders als in einem gewöhnlichen Ego-Shooter genießt man hier die völlige Bewegungsfreiheit im Raum – man kann das Vehikel also komplett um alle Achsen drehen, um das Innenleben des Computers bzw. der Software zu erforschen. Entsprechend schnell stellt sich das wunderbare „Fluggefühl“ ein, das manche Spieler noch aus Klassikern wie Descent oder Forsaken kennen und das hier ähnlich gut funktioniert. Das gilt nicht nur für die Steuerung mit Maus und Tastatur, denn auch Controller wie das 360-Pad werden unterstützt und sind für eine präzise Navigation geeignet. Voraussetzung ist hier jedoch, dass man nicht zu der Sorte Spieler gehört, welche die Y-Achse invertieren. Zwar findet man einen entsprechenden Menüpunkt in den Optionen, doch wirkt sich die invertierte Steuerung nur auf die Maus und nicht den Controller aus.

In Röhren und Schächten verbringt man einen Großteil der Zeit.
In Röhren und Schächten verbringt man einen Großteil der Zeit. © 4P/Screenshot

Dass man bei der Erkundung der vielen Schächte und im Eifer des Gefechts in den virtuellen Welten schon mal die Orientierung verlieren kann, ist keine große Überraschung. Deshalb haben die Entwickler eine Navigationshilfe im Stil von Dead Space spendiert, die auf Tastendruck eine Linie aus Pfeilen zum nächsten Ziel zeigt. Leider funktioniert das System nicht ganz zuverlässig: Ab und zu wurde ich z.B. zu einer Wand geführt, bei der es kein Durchkommen gab. Erst nachdem ich in eine andere Sektion zurückgekehrt war und einen neuen Versuch unternahm, hatte sich die Navigation wieder gefangen und leitete mich zuverlässig zum Ziel. Der verworrenen Story hätte ein solcher Wegweise ebenfalls nicht geschadet: Zwar erfährt man durch die gefundenen E-Mails und Sprachhinweise, dass sie sich wohl um eine Art große Verschwörung dreht, doch wird die Geschichte so abstrus präsentiert, dass man bei dem Geflecht aus meist künstlichen Personen schnell den Durchblick und die Lust verliert.    

Stilsicher

Besonders visuell sticht Retrovirus hervor: Die künstliche Welt mit ihren verzweigten Röhren, blinkenden Schaltern und Ventilatoren bekommen im Zusammenspiel mit der organisch wirkenden Wurminfektion einen ganz eigenen Stil. Es sieht klasse aus, wie sich die pilzartigen, lilafarbenen Geschwüre ausbreiten oder kleine Saugerwesen wie Kaulquappen an den Wänden entlang schrubben oder sich auf den Spieler stürzen. Im Laufe der „Wurmjagd“ erkundet man u.a. den Desktop, den Web-Browser oder das E-Mail-Programm, bei dem sogar kleine Briefsymbole durch die Gegend schwirren.

Wer hätte gedacht, dass die Arbeit eines Anti-Viren-Programms so aufregend sein kann?
Wer hätte gedacht, dass die Arbeit eines Anti-Viren-Programms so aufregend sein kann? © 4P/Screenshot

Ja, grafisch wird einiges geboten. Angesichts des Hardware-Hungers von Retrovirus ist es aber auch das Mindeste, was man erwarten kann. Unter einem Dual-Core mit mindestens 2 GHz und 2GB Speicher geht nichts, doch selbst unser Test-PC (i7-Prozessor & Geforce GTX 580) kam ganz schön ins Schwitzen. Ärgerlich: Nach einer gewissen Spielzeit kam es außerdem immer wieder zu Abstürzen, die sich zuvor schon durch ein drastisches Absinken der Bildrate angedeutet haben. Leider hat man es versäumt, den Arealen einen markanten Anstrich zu verpassen. So schön die Mischung aus künstlicher und organischer Kulisse am Anfang auch wirkt, nutzt sich der Stil mit der Zeit stark ab, weil es an Abwechslung mangelt. Zu selten wird man von einer neuen Aufmachung oder frischen Architektur innerhalb der Levels überrascht. Der monotone Elektro-Soundtrack im Hintergrund trägt neben den durchschnittlichen Effekten ebenfalls dazu bei, dass man Retrovirus lieber in kurzen Dosen genießen und nicht stundenlang in die Welt abtauchen möchte.